Schulabschluss

Die Tante DES JUNGEN MÄDCHENS ist stolz. Gemeinsam mit den Eltern und anderen Verwandten beklatscht sie den Hauptschulabschluss des Mädchens. In der Aula. Bei einer großen Feier.
Dieser Tag war lange nicht in Sicht gewesen. „Der Leistungshorizont der Grundschule ist für das Kind nicht erreichbar“, hatte ein Gutachter schon vor der Einschulung festgestellt. Also: Ab in den Kleinbus in die Förderschule im Nachbarort. Auch die Tante hoffte damals an dieser besonderen Schule auf besonders intensive Unterstützung. Stattdessen bekam das Mädchen immer weniger Lernstoff und immer weniger Kontakt zu den Nachbarskindern.
Da begannen sich die Tante, die Eltern und ein Rechtsanwalt mit dem Schulamt zu streiten, und zwar solange, bis das Mädchen an die Grundschule wechseln durfte.
Das Mädchen war fleißig und ausdauernd und noch immer nicht die beste Schülerin. In der Abschlussprüfung fielen ihr Mathematik und Textinterpretation wirklich schwer. Aber sie hatte schon ein Praktikum im Supermarkt gemacht und dort überzeugt. Wieder durch Fleiß und Ausdauer. Jetzt hat sie nicht nur das Abschlusszeugnis in der Hand, sondern auch schon einen Ausbildungsplatz in der Tasche.
Und die Tante sitzt in der Aula und lächelt. Nur einmal schüttelt sie kurz den Kopf, als sie an den Gutachter denkt.

Die Geschichte vorgelesen …

Mamas Seele

 

2017

Die Mutter DES JUNGEN ist geschafft.
Heute war einfach alles zu viel.
Die sonderpädagogische Versorgung an der allgemeinen Schule, in die der Junge geht, ist im nächsten Schuljahr wieder mal völlig ungeklärt.
Dann hat sie heute lange mit einer anderen Mutter diskutiert, deren Kind mit Behinderung in einer Sondereinrichtung lebt. Begründung: Es soll nicht den Blicken der Menschen auf der Straße ausgesetzt sein.
Und dann ist abends, als die Mutter sich im Garten etwas entspannen wollte, eine Brombeere beim Pflücken direkt auf ihre helle Hose gefallen.
Nun sitzt sie frustriert am Küchentisch.
Der Junge kommt mit seinem Kinder-Arztkoffer. Er will helfen: Er guckt der Mutter in die Ohren, horcht sie ab und prüft mit dem Hammer die Reflexe.
Er findet nichts. „Wo bist du denn krank?“, fragt er die Mutter.
„Nicht am Körper, Schatz“, sagt die Mutter, „ein bisschen an der Seele.“
Da holt der Junge ein großes Pflaster aus der Küchenschublade, geht damit zur Mutter und klebt es ihr mitten auf den Bauch.
„Da sitzt Mama Seele?“, fragt der Vater lachend, als er in die Küche kommt, „bist du sicher?“
„Ja!“, sagt der Junge entschieden.
Am nächsten Morgen geht es der Mutter wieder deutlich besser.

 

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Peer

Vier Jahre lang war DAS MÄDCHEN auf der Sonderschule.
In der weiterführenden Schule haben sich die Eltern nun für eine allgemeine Schule und die Inklusion entschieden.
In der Elterngruppe berichten sie von ihren ersten Erfahrungen. Wie sehr es Mädchen genießt, mit den anderen Mädels zusammen zu sein und was es sich alles von ihnen abschaut.
„Aber was ist mit der Peer-Group?“, fragt eine Mutter, „die ist doch so wichtig: Dass eure Tochter auch Kontakt zu ihresgleichen hat!“
Die Mutter des Mädchens denkt an die Sonderschulklasse zurück:
Sie denkt an den schwerstbehinderten Jungen, der fast immer im Snoezel-Raum war.
Sie denkt an den wilden Jungen, der so oft mit seiner Schulbegleitung rausgeschickt wurde.
Sie denkt an das türkische Mädchen, das sich nie verabreden durfte.
Und sie denkt an das Mädchen, mit dem ihre Tochter unbedingt befreundet sein sollte. So wollte es die Sonderpädagogin. Immer wieder mussten beide eine Partner-Aufgabe machen. Sie mussten nebeneinander sitzen. Sie sollten auch die Pause gemeinsam verbringen. Aber die beiden mochten sich nicht. Ganz und gar nicht.
„Nein“, sagt die Mutter, „diese Gruppe vermissen wir nicht.“

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Projekte

2017

DAS MÄDCHEN ist in der ersten Klasse. Es hat andere Lernziele als die Grundschulkinder. Schulleiter, Klassenlehrerin, Eltern und Sonderpädagogin treffen sich zur Planungsrunde.
Der Start ist gelungen. Da sind sich alle einig. Die Klassenlehrerin wünscht sich mehr Unterstützung beim Anpassen des Lernstoffes für das Mädchen. „In Deutsch zum Beispiel…“ setzt sie an.
Die Sonderpädagogin unterbricht sie: „Da muss ich ein wenig die Erwartungen bremsen…“, sagt sie.
Und dann holt sie aus: Sie freut sich, als Fachfrau die Schule zu begleiten. Natürlich wäre es gut, wenn es mehr als nur 4 Stunden seien. Da müsse sie nun einmal Schwerpunkte setzen. Es gebe ja so viele tolle Projekte, die eine inklusive Beschulung unterstützen. Und dann zählt sie auf:
„Ich plane ein Anti-Mobbing-Projekt für die Klasse, damit das Mädchen niemals zum Mobbingopfer wird. Parallel dazu bereite ich ein Kunstprojekt vor, bei dem das Mädchen seine kreativen Potentiale entfalten kann. Und dann informiere ich mich gerade über ein Sportprojekt, bei dem die sozialen Fähigkeiten der Mitschüler gesteigert werden.“
Die Klassenlehrerin murmelt noch etwas von „Mathematik“, aber da hat die Sonderpädagogin schon energisch gesagt: „Mehr geht jetzt wirklich nicht!“
Bei der Verabschiedung drückt der Schulleiter den Eltern fest die Hand. „Kriegen wir schon irgendwie hin…“, sagt er leise und seufzt.

 

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